07/09/2020
 6 Minuten

Uhrmacherei in Russland: Jahrzehnte der Innovationen und bemerkenswerter Geschichten

Von Jorg Weppelink
CAM-1169-Uhren-aus-Russland-2-1

Uhrmacherei in Russland: Jahrzehnte der Innovationen und bemerkenswerter Geschichten

Die Schweizer Uhrenindustrie steht tendenziell im Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn es um mechanische Uhren geht, aber es weiß natürlich jeder, dass die Industrie auch weit über Schweizer Grenzen hinaus existiert. Obwohl die Schweizer Uhren die größten Schlagzeilen für sich beanspruchen, werden rund um den Globus viele andere Uhren von Weltrang produziert. Heute entfernen wir uns von den vertrauten Alpenlandschaften und schauen uns eine weitere große Uhrmachernation an: Russland. Ohne weitere Umschweife tauchen wir nun also in die Welt der mechanischen Uhren aus dem Land von Tschaikowski, Tolstoi und Gagarin ein.

Einige von Ihnen assoziieren Russland vielleicht nicht direkt mit der Herstellung mechanischer Uhren, besonders, wenn es um Luxusuhren geht. Russland ist vielleicht nicht für seine Vielzahl an Luxusmarken bekannt, aber das bedeutet nicht, dass es in diesem Land einen Mangel an Uhrmacher-Geschichte gäbe. Die russische Uhrmacherkunst ist geprägt von Innovation, bemerkenswerten Designs und unglaublichen Geschichten. Einige dieser Geschichten sind weltbekannt und haben großes Interesse, sowohl an modernen als auch an Vintage-Uhren aus Russland geweckt. 

 

Die Industrielle Revolution in Russland 

Um einen Überblick über die Geschichte der russischen Uhrmacherei zu bekommen, müssen wir uns in vor-sowjetische Zeiten begeben. Als in den 1880er-Jahren die Industrielle Revolution nach Russland kam, verlor man keine Zeit und baute große Fabriken für die Massenproduktion. Damals verfügte Russland aber noch über keine erwähnenswerte Uhrenindustrie und es mangelte an Expertise eine zu begründen. Stattdessen wurden die meisten Uhren aus Ländern wie der Schweiz, England und den USA importiert. 

All das änderte sich unter Joseph Stalin. Das industrielle Wachstum unter Stalin war außergewöhnlich; er transformierte Russland von einer landwirtschaftlichen Gesellschaft zu einem industriellen Machtzentrum mit Fokus auf Autarkie. In den 1930er-Jahren erbat Russland sich Hilfe von amerikanischen Uhrmachern, um Uhren für die eigenen Truppen zu bauen. Diese Uhrmacher halfen später bei der Ausbildung von Personal in der Ersten Staatlichen Uhrenfabrik in Moskau. In den ersten zwei Monaten wurden in der Fabrik 50 Taschenuhren hergestellt. Innerhalb von fünf Jahren wuchs diese Zahl auf 450.000 – es war der Beginn von etwas Großem. 

 

Sowjetische Uhrmacherei in der Nachkriegszeit 

In den folgenden Jahrzehnten begannen einige staatliche Fabriken mit der Produktion von Uhren. Die meisten waren militärisch inspiriert, sowohl in Form als auch in Funktion. Uhren wurden für Militärpiloten, Taucher, Kosmonauten und anderes Personal hergestellt. Dieser funktionale Ansatz bot die Grundlage für viele Innovationen und neue Designs in der Welt der russischen Uhrmacherei. Bei diesen Uhren handelte es sich keinesfalls um Luxusprodukte, wie sie sonst überall auf der Welt in den 1950er- und 1960er-Jahren auftauchten. Funktionalität war der Schlüssel für die Produktion in der kommunistischen Sowjetgesellschaft. 

 

Poljot Polarbear
Poljot Polarbear

 

Die 1960er-Jahre waren allerdings auch die Geburtsstunde einiger der größten russischen Uhrenmarken. Obwohl sie ursprünglich Uhren für die sowjetische Regierung produzieren sollten, begannen sie bald auch mit dem Verkauf von Millionen von Uhren an Sowjetbürger. Einige Marken wie Poljot, Raketa und Vostok produzierten jährlich Millionen von Uhren, wodurch sie zu bedeutenden Marken wurden, die auch über die Grenzen der Sowjetunion Beachtung fanden. 

Einige Marken standen in Verbindung zu bemerkenswerten Errungenschaften: Zum Beispiel begleitete eine Sturmanskie Juri Gagarin, als dieser als erster Mensch ins All flog, und Alexei Leonov trug seine FMWF Strela, als er als erster Mensch einen Spaziergang im Weltall absolvierte. Außerdem trugen Polarentdecker die Raketa Polar im Zuge der 16. sowjetischen Antarktis-Expedition. Diese Geschichten haben gewisse russische Marken berühmt gemacht und begründen ihre Beliebtheit bis zum heutigen Tag. Mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 wurden all diese Uhren auch für Käufer außerhalb des Ostblocks verfügbar, was bedeutete, dass viele russische Marken ihren Horizont erweitern und anfangen konnten, auf dem weltweiten Markt zu verkaufen. 

Lassen Sie uns also in das Thema der wichtigsten russischen Uhrenmarken, die auch heute noch auf dem Markt sind, eintauchen. Wir schauen uns die Modelle an, die sie berühmt machten. 

 

Vostok 

Die Fabrik, aus der später Vostok Watch Makers hervorging, wurde ursprünglich 1942 im russischen Tschistopol gebaut. Die eigentlich in Moskau gebaute Fabrik musste aufgrund vorrückender Wehrmachtstruppen verlegt werden. Das Unternehmen begann während des Krieges mit der Produktion militärischer Ausrüstung, kehrte jedoch nach Kriegsende zu seinen uhrmacherischen Wurzeln zurück. 

 

Vostock Amfibia
Vostock Amfibia

 

Die Marke Vostok wie wir sie heute kennen, wurde in den 1960er-Jahren gegründet. Der Name wurde Juri Gagarins Raumkapsel, der Wostok 1, entliehen. Die Marke arbeitete mit dem sowjetischen Verteidigungsministerium zusammen und entwickelte eine Reihe von Uhren für das Militär. Das erste Modell war die Komandirskie, was im Russischen „Kommandant“ bedeutet. Auf die Komandirskie folgte die Taucheruhr Amfibia (Amphibie), die später eine der beliebtesten russischen Uhren aller Zeiten wurde. Diese Taucheruhr hat eine Kult-Anhängerschaft und ist in einer Vielzahl an Konfigurationen erhältlich. 

 

Poljot 

Poljot ist wahrscheinlich die größte Uhrenmarke, die jemals in Russland entstanden ist. Obwohl die Erste Staatliche Uhrenfabrik bereits seit den 1930er-Jahren Uhren in Moskau produzierte, wurde der Name Poljot für ihre Uhren gewählt nachdem Gagarin 1961 zum ersten Menschen im All wurde. Davor hatte die Fabrik unter diversen verschiedenen Namen Uhren hergestellt, inklusive Sturmanskie – die Marke, die Gagarin im All trug. Poljot, oder deutsch „Flug“, produzierte viele Modelle für die sowjetische Armee, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich waren. Diese Uhren sind heute heiß begehrt und sehr selten. 

 

Poljot Aviator Chronograph
Poljot Aviator Chronograph

 

Eines der berühmtesten Uhrwerke von Poljot ist das Chronographenkaliber 3313, das auf dem Schweizer Valjoux 7734 basiert. Dieses Uhrwerk wurde erstmals als Antrieb für Uhren, die an sowjetische Kosmonauten und Piloten gegeben wurden, verbaut. Erst in den 1980er-Jahren waren Uhren, die vom Poljot 3313 angetrieben wurden, für die Öffentlichkeit verfügbar. Viele Sammler betrachten dieses Uhrwerk als das beste russische Chronographenwerk das jemals produziert wurde. Wenn Sie eine Vintage Poljot Aviator oder Albatros in die Hände bekommen, besitzen Sie ein Stück russischer Uhrmachergeschichte. 

 

Sturmanskie 

Als Juri Gagarin 1961 zum ersten Mann im Weltall wurde, trug er eine Sturmanskie. Sturmanskie- oder „Navigator“-Uhren wurden von der Ersten Staatlichen Uhrenfabrik hergestellt und waren ursprünglich nicht für die Raumfahrt gedacht. Gagarin trug seine persönliche Uhr und verwandelte diese in eine Legende für Uhrensammler auf der ganzen Welt. Heute findet man Gagarins Uhr im Kosmonautenmuseum in Moskau. 

 

Sturmanskie Gagarin Re-Edition
Sturmanskie Gagarin Re-Edition

 

Als „erste im All getragene Uhr“ ging sie nun logischerweise als Ikone in die Geschichte ein. Die Sturmanskie war für einige Zeit die offizielle Uhr für Kosmonauten. Im Laufe der Jahre wurden viele verschiedene Modelle mit verbesserten Komponenten produziert, die den Belastungen der Raumfahrt besser standhalten konnten. Jedoch kommt nichts an Gagarins Original, das er bei seiner Reise ins All trug, heran. Es gab eine Reihe von Neuauflagen, die an diese historische Reise erinnerten. Heute bietet Sturmanskie eine breite Kollektion von Modellen an, die alle eine Verbindung zu Erkundungsreisen aufweisen. Die Mehrheit von ihnen fokussiert sich auf die Entdeckung des Weltalls. Wenn Sie aber ein echtes Stück Uhrmachergeschichte Ihr Eigen nennen möchten, dann wissen Sie jetzt, welche Sie nehmen müssen. 

 

Raketa 

Diese Liste wäre ohne Raketa unvollständig. Diese Marke wurde ebenfalls in den 1960ern infolge von Gagarins Reise ins All gegründet. Man muss es den Russen lassen: Sie lieben es, ihre Helden zu würdigen. Raketa, oder Rakete auf Deutsch, wurde von der Uhrenfabrik Petrodvorets gegründet, die seit 1945 in Sankt Petersburg tätig war. Wie die anderen Marken auf dieser Liste schuf auch Raketa viele funktionelle Uhrenmodelle für die sowjetische Regierung. 

Die berühmtesten Raketa-Modelle waren die Big Zero und die 24-Stunden-Uhr. Der Name Big Zero sagt eigentlich schon alles: Ursprünglich in den 1970er-Jahren entworfen, sieht man auf dieser Uhr eine große Null auf 12 Uhr. Zu den bekanntesten Trägern der Big Zero gehört der frühere Staatspräsident der Sowjetunion Michail Gorbatschow. Als er gefragt wurde, was die Perestroika für die Sowjetunion bedeuten würde, zeigte er auf die „0“ auf seiner Raketa Big Zero, als Zeichen für einen Neuanfang. 

Die 24-Stunden-Modelle basieren auf der Raketa Polar, die ursprünglich für die Entdecker auf der 16. sowjetischen Antarktis-Expedition entwickelt wurde. Da die Forscher durch die Antarktis reisten, wo es 24 Stunden Tageslicht und 24 Stunden Dunkelheit geben kann, mussten die Uhrmacher bei Raketa eine Möglichkeit finden, die richtige Uhrzeit anzuzeigen. Sie entwarfen eine Uhr mit einer 24-Stunden-Anzeige statt der üblichen 12-Stunden-Anzeige. Dieses Merkmal ist inzwischen ein Markenzeichen von Raketa-Uhren. 

 

Raketa 24H
Raketa 24H

 

Damit haben Sie nun einen Überblick über die russische Uhrmacherwelt. Dieser ist vielleicht kurz – viel zu kurz sogar – aber wenn Sie Interesse an großartigen Geschichten, funktionellem Design und bemerkenswerten Innovationen haben, sollten Sie sich weitere russische Marken anschauen. Es gibt so viele davon und jede hat ihre eigene einzigartige Geschichte und bemerkenswerte Uhren. Das Beste daran? Viele russische Uhren sind trotzdem noch sehr erschwinglich. Wer sagt denn, dass eine tolle Uhr teuer sein muss? 

Mehr lesen

Erweitern Sie Ihren Horizont: Unsere Top-3-Uhren aus Japan

Uhren aus dem Schwarzwald: Die Anfänge der deutschen Uhrmacherkunst

Die beliebtesten Rolex-Modelle auf Chrono24


Über den Autor

Jorg Weppelink

Hallo, ich bin Jorg und schreibe seit 2016 Artikel für Chrono24. Meine Beziehung zu Chrono24 reicht jedoch deutlich weiter zurück, denn meine Liebe zu Uhren erwachte …

Zum Autor

Aktuellste Artikel

ONP-970-First-Time-Buyer-Guide-2-1
04/22/2024
Uhrenratgeber
 5 Minuten

Der ultimative Guide: Was Sie beim Kauf Ihrer ersten Luxusuhr beachten sollten

Von Sebastian Swart
Rolex-Datejust-Mother-of-Pearl-2-1
04/08/2024
Uhrenratgeber
 5 Minuten

5 schöne Luxusuhren mit Perlmutt-Zifferblatt

Von Sebastian Swart
Audemars-Piguet-Royal-Oak-Blue-Dial-2-1
04/03/2024
Uhrenratgeber
 5 Minuten

Hommage-Uhren: Echte Alternativen oder Abklatsch?

Von Tim Breining

Featured

ONP-929-Donatos-Uhrensammlung-2024-2-1
 5 Minuten

Das Beste für 24.000 EUR: Donatos perfekte Uhrensammlung für 2024

Von Donato Emilio Andrioli
10-best-watches-under-2000-1-1-2-1
Top 10 Uhren
 5 Minuten

Die zehn besten Uhren unter 2.000 EUR

Von Donato Emilio Andrioli
Jorgs Uhrensammlung für unter 24.000 EUR
 4 Minuten

Das Beste für 24.000 € im Jahr 2024: Jorgs perfekte Uhrensammlung

Von Jorg Weppelink
10-best-watches-under-2000-1-1-2-1
Top 10 Uhren
 5 Minuten

Die zehn besten Uhren unter 2.000 EUR

Von Donato Emilio Andrioli