06/28/2022
 6 Minuten

Die Co-Axial-Hemmung: Ganggenauigkeit made by Omega?

Von Tim Breining
Omegas-Co-Axial-Hemmungen–Magazin-2-1

Das gewohnte Schauspiel von Unruh, Anker und Hemmungsrad ist Liebhabern mechanischer Uhren bestens vertraut. Durch den Glasboden für den Besitzer sichtbar gemacht, steht es zusammen mit dem markanten Ticken wie kaum eine andere Funktion oder Komponente von Zeitmessern für die Faszination einer mechanischen Uhr schlechthin. Die Hemmung ist das Herz der mechanischen Uhr.

Omega Co-Axial 9300
Omega Co-Axial 9300

In seiner jetzigen Form schlägt dieses Herz mehr oder weniger seit über einem Vierteljahrtausend auf dieselbe Weise. Die Rede ist von der Ankerhemmung, erfunden von George Graham im 18. Jahrhundert für Standuhren und von seinem Schüler Thomas Mudge für tragbare Uhren adaptiert. Die Konstruktion von Mudge kulminierte nach zahlreichen konstruktiven Anpassungen in der Schweizer Ankerhemmung. Sie behält die grundlegende Funktionsweise bei, beinhaltet aber zahlreiche Verbesserungen gegenüber dem initialen Design von Mudge.

Zwar wurden mit der Zeit Hemmungen konstruiert, die der Schweizer Ankerhemmung in gewissen Aspekten überlegen zu sein schienen, doch diese vermeintlichen Vorteile bestanden meist nur auf dem Papier. Abseits von speziellen Anwendungen in stationären Uhren konnten sie sich nie in der Massenfertigung durchsetzen. Gründe finden sich in der Komplexität, dem Verschleiß, der Justierbarkeit, der Zuverlässigkeit und der Widerstandsfähigkeit gegenüber den Umwelteinflüssen des Alltags am Handgelenk.

Mit der Renaissance der mechanischen Uhr, die zunehmend das Verlangen nach besonders innovativen und eigenständigen Konstruktionsmerkmalen vorantrieb, erlebte die Hemmungsentwicklung einen neuen Aufschwung.

Einigen ausgewählten Entwicklungen – sowohl bereits in der Massenfertigung etablierten als auch vielversprechenden Konzepten im Entwicklungsstadium – widmet sich diese Reihe von Artikeln. Dabei soll vor allem herausgestellt werden, was die Motivation hinter den Erfindungen ist und worauf ihre Vorteile, aber auch Nachteile, beruhen.

Wieso eine Co-Axial-Hemmung? – George Daniels‘ Vermächtnis

Den Anfang macht die berühmte Co-Axial-Hemmung, die von George Daniels erfunden wurde. Bezüglich ihrer grundlegenden Idee geht sie bis hin zu Breguet zurück und konnte womöglich nur durch die Hilfe eines guten Freundes von Daniels perfektioniert werden.

Die Aussage, dass George Daniels zu den talentiertesten und relevantesten Uhrmachern der Neuzeit zählt, ist keinesfalls übertrieben. Sie wird durch die Tatsache unterstrichen, dass er ein seit 250 Jahren etabliertes Konzept hinterfragte und schließlich weiterentwickelte. Er analysierte konsequent die Unzulänglichkeiten der Ankerhemmung, wobei er deren Stärken – die ausgezeichnete Robustheit, die freie Hemmungskonstruktion und die präzise Impulsübertragung bei jeder Halbschwingung – unbedingt beibehalten wollte. Als größtes Manko identifizierte er die Notwendigkeit einer Ölschmierung an den Hebeflächen der Hemmung, denn das Verhalten von Öl ist temperaturabhängig und kann einer Alterung unterliegen.

Dieses Video eines Demonstrationsmodells zeigt die Funktionsweise der Co-Axial-Hemmung

Die Notwendigkeit dieser Schmierung der Hebeflächen am Hemmungsrad war wiederum dadurch bedingt, dass die Hebung gleitreibungsbehaftet ist, und zwar dann, wenn das Hemmungsrad über die Paletten des Ankers den Impuls überträgt. Stellt man sich die Frage, wie der Impuls möglichst reibungsfrei übertragen werden kann, ist es naheliegend, sich von einer etablierten, weitgehend reibungsfreien Hemmung inspirieren zu lassen: der Chronometerhemmung. Hier liefert das Hemmungsrad bei jeder ganzen Schwingung (statt bei jeder Halbschwingung, wie bei der Ankerhemmung) den Impuls direkt an die Unruh. Dieser Impuls wird in guter Näherung rein tangential übertragen – so, wie wir etwa ein Karussell anschubsen würden. Bei einer solchen tangentialen Übertragung gibt es keine radiale Kraftkomponente und keine Relativbewegung – und somit auch keine Reibung.

Doch wieso mussten 250 Jahre vergehen, bis jemand Daniels‘ Schritt tat, obwohl die zentralen Baustellen der Ankerhemmung den Uhrmachern wohlbekannt waren? Tatsächlich mangelte es nicht an Konzepten und Ideen, sondern an einer marktgerechten Umsetzung, speziell in Hinblick auf die Massenproduktion, wie schon im Einstieg dieses Artikels erwähnt.

Vorboten und Verwandte der Co-Axial-Hemmung

Eine prominente Umsetzung einer solchen Hemmung mit tangentialer Impulsübertragung an die Unruh stammt von niemand Geringerem als Abraham-Louis Breguet. Breguets „Echappement Naturel“ erkennt man an seinen zwei Hemmungsrädern, auf die der Getriebezug wirkt, wobei eine Zugfeder beide seriell verzahnten Hemmungsräder antreibt. Der Anker erfüllt bei dieser Hemmung lediglich die Aufgabe des Anhaltens des Getriebezugs. Die Impulsübertragung erfolgt ausschließlich direkt durch die Hemmungsräder – und zwar abwechselnd, abhängig von der Richtung der Unruhschwingung. Auf dem vielzitierten „Papier“ eine geniale Lösung, die eine praktisch reibungsfreie Kraftübertragung verspricht.

Breguets Uhr 1135 mit seinem Echappement Naturel, Bild: Kjorford, Wikipedia

Die Praxis zeigte jedoch, dass die Reibung an der Achse des zusätzlich eingebrachten Hemmungsrads sowie besonders das Spiel in der Verzahnung der seriell gekoppelten Hemmungsräder die reale Performance der Konstruktion sogar hinter die der Ankerhemmung der damaligen Zeit zurückwarf. Breguet selbst griff nach dieser Erkenntnis wieder auf die etablierten Ankerhemmungen zurück, da seine Uhren damit schlicht und einfach genauer liefen.

Diese Hemmung spielt in unserer Geschichte rund um die Co-Axial-Hemmung eine entscheidende Rolle: George Daniels widmete sich zunächst der Weiterentwicklung dieses Konzepts, wobei seine Innovation darin bestand, die Hemmungsräder separat anzutreiben. Dies umging das Problem der extremen Anforderungen an die Toleranzen und die Minimierung des Zahnspiels, was für die enttäuschende Performance von Breguets Variante verantwortlich war. Erkauft wurde dieser Vorteil durch die Notwendigkeit eines zweiten Laufwerks inklusive zusätzlicher Zahnräder und einer zweiten Zugfeder.

George Daniels und Derek Pratt

An dieser Stelle kommt der Dritte im Bunde ins Spiel: Daniels‘ Zeitgenosse und nicht minder talentierter Freund Derek Pratt. Er beschäftigte sich sowohl mit Daniels‘ neu konzipierter Variante sowie mit der ursprünglichen Fassung von Breguets Echappement Naturel. Die merkwürdige Unterrepräsentation Pratts gegenüber Daniels in den einschlägigen Uhrenmedien beruht wohl auch darauf, dass er keine in der Massenfertigung adaptierte Erfindung wie die Co-Axial-Hemmung bei einer großen Marke wie Omega platzierte.

Zudem galt Pratt als bescheiden – was ihn davon abhielt, damit zu prahlen, besonders filigrane Teile wie das hochkomplexe Hemmungsrad für Uhren von George Daniels gefertigt zu haben. Er unterstützte seinen Freund in den Verhandlungen mit Omega, der Marke, die den kommerziellen Durchbruch der Hemmung schließlich ermöglichte. Daniels wiederum vermied es zeitlebens, Pratts direkten Beitrag öffentlich zu honorieren – ein kleiner Schatten auf einer sonst großen Persönlichkeit. Die Uhrmacherei war zweifelsohne die Leidenschaft beider Männer, aber anders als Daniels, der jahrelang auch den kommerziellen Erfolg seiner Co-Axial-Hemmung forcieren wollte (was ihm schließlich auch gelang), waren Pratts Ambitionen weniger kommerzieller Natur.

Neben den direkten Beiträgen zur Fertigung und zum kommerziellen Durchbruch von Daniels‘ Erfindung sind einige Arbeiten Pratts im Kontext der Hemmungsentwicklung erwähnenswert.

Die meisten von Pratts Taschenuhren – viele davon entstanden für die Marke Urban Jürgensen & Sønner – werden der Bezeichnung Meisterwerk mehr als gerecht. Doch im Kontext dieses Artikels sticht besonders die Uhr heraus, die er für einen Wettbewerb anlässlich des 250. Geburtstags von Breguet herstellte.

In dieser unglaublichen Taschenuhr kombinierte Pratt nicht nur Breguets Erfindungen des Echappement Naturel mit Breguets bekanntester Erfindung, dem Tourbillon, sondern spendierte beiden Hemmungsrädern auch noch ein Remontoir, also ein Nachspannwerk für konstante Kraftübertragung. Hierfür griff er nicht auf die bereits von Daniels ersonnene Version mit zwei unabhängigen Laufwerken zurück, da diese nicht für Tourbillonkonstruktionen geeignet war.

Pratt sollte später ausgerechnet die Realisierung von George Daniels‘ Variante des Echappement Naturel in einer Armbanduhr der Superlative motivieren: dem Double Impulse Chronometer der Marke Charles Frodsham, in den implizit das Genie der drei bereits genannten Uhrmacher einfloss. Von Breguet stammt natürlich das historische Konzept, Daniels entwickelte die Hemmung weiter und Pratt brachte die Marke Charles Frodsham auf die Nutzung von Daniels‘ Konstruktion und begleitete die Realisierung.

Double Impulse Chronometer von Charles Frodsham

Die Essenz der Co-Axial-Hemmung

Wieso die Exkurse zu all diesen Hemmungsvarianten? Ganz einfach: Oft wird die Co-Axial-Hemmung als perfektionierte Ankerhemmung dargestellt, was aufgrund der optischen Ähnlichkeit naheliegt, aber nur teilweise zutrifft. Tatsächlich ist sie gleichermaßen mit der Chronometerhemmung – zumindest gedanklich – verwandt, da Breguet mit seinem Echappement Naturel versuchte, die Tugenden der Chronometerhemmung mit der Zuverlässigkeit der Ankerhemmung zu vereinen. Nicht aus Zufall thematisiert George Daniels in seinem Standardwerk „Watchmaking“ zunächst die Ankerhemmung, dann die Chronometerhemmung, gefolgt vom Echappement Naturel als Kombination der Vorteile beider Konstruktionen. Danach wiederum präsentiert er seine von zwei Laufwerken angetriebene Version (die er Independent Double-Wheel Escapement nennt) und landet schließlich bei der Co-Axial-Hemmung. Co-Axial steht für nichts anderes als für zwei Räder, die sich dieselbe Achse teilen.

Derek Pratt beschrieb es 2009 vielleicht am präzisesten: Er sagt, dass Daniels sich der Entwicklung der Co-Axial-Hemmung widmete, um sich der Komplikation des zusätzlichen Laufwerks zu entledigen. Die Co-Axial-Hemmung ist deshalb vorrangig eine in der Komplexität reduzierte Variante des „Independent Double Wheel Escapement“ beziehungsweise des weiterentwickelten Echappement Naturel – zumindest hinsichtlich der Anzahl der Komponenten und des benötigten Bauraums in einer Uhr. Vermutlich war es diese Reduktion im baulichen Aufwand, die der Co-Axial-Hemmung den Weg hin zur Massenfertigung ebnete, während sämtliche Spielarten von Doppelradhemmungen bis heute ein Nischendasein in High-End-Marken und Unikaten fristen.

Detailaufnahme einer Omega Co-Axial-Hemmung

So viel zum Weg hin zur Co-Axial-Hemmung. Wie sieht es mit ihrer Zukunft aus? Mehr als rosig! Dank der Adaption in der Serienfertigung bei Omega landet sie in immer mehr Modellen, die sich in wesentlich bezahlbareren Sphären bewegen als die Meisterwerke von George Daniels. Doch auch Daniels‘ Anhänger müssen nicht verzagen, denn sein Protegé Roger Smith verwaltet das Erbe des Meisters nicht nur souverän, sondern entwickelt die Co-Axial-Hemmung kontinuierlich weiter.


Über den Autor

Tim Breining

Etwa 2014, während meines Ingenieurstudiums, begann ich mich für Uhren zu interessieren. Mit der Zeit wurde aus der anfänglichen Neugier eine Leidenschaft. Da …

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