10/15/2021
 5 Minuten

Achtung: Richard Mille wird allgemein überschätzt

Von Thomas Hendricks
Richard Mille is overrated -2-1

Ist es immer noch eine bloße Behauptung, wenn ein Großteil der Leute derselben Meinung ist? Sie mögen mich für verrückt halten, aber ich glaube es gibt bessere Angebote als eine Armbanduhr für 250.000 Euro. Bitte nicht falsch verstehen… An dieser Stelle muss ich mal meinen Frust über eine der teuersten Uhrenmarken ablassen. Angesichts der Tatsache, dass der gesamte Uhrenmarkt gerade eine nie dagewesene Inflation durchmacht, fragt man sich schon, warum es manche Käufer ausgerechnet zu der Marke mit dem miesesten Preis-Leistungs-Verhältnis der Branche hinzieht: Richard Mille.

Zur Erinnerung: Richard Mille ist eine unabhängige Uhrenmarke. Sie wurde 2001 von Richard Mille und Dominique Guenat in Les Breuleux in der Schweiz gegründet. Bekannt wurde die Marke durch eine Mischung aus aggressiver technologischer Entwicklung sowie durch ihre Werbe-Botschafter. Jeder, der schon einmal beim Surfen einen Artikel über Uhren gelesen hat, erkennt die für Richard Mille charakteristischen tonnenförmigen Gehäuse und schreienden Farben. Weithin bekannt ist RM auch für seine prominenten Kunden, darunter Drake, Jay-Z, Beyoncé und Neymar. Und das sind nur die Promis mit einem einzigen Namen!

Mit dem Aufstieg der Marke wuchs jedoch auch die Zahl der Kritiker. Meine heutige Tirade gilt vor allem den beiden Hauptkritikpunkten: dem knalligen Design und dem Sammlerklientel, das sich davon angezogen fühlt.

Genial skelettiert oder einfach nur übertrieben?

Beim Betrachten der Richard Mille-Uhren sticht die starke Detaillierheit ihrer skelettierten Bauweise sofort ins Auge. Die Marke baut Uhren wie Formel1-Rennwagen und Düsenjets, aus Materialien wie Titan, Karbonverbundstoffen, Keramik oder Saphirglas. Was ich davon halte? Zumindest auf dem Papier wird das Endprodukt dem Mythos keineswegs gerecht.

Möglicherweise liegt es an der starken Präsenz am Handgelenk, an den Materialien oder der extravaganten Farbgebung … irgendetwas an diesen Uhren wirkt kindisch. Verspielt, aber auf eine übertrieben gewollte Art und Weise. Richard-Mille-Fans bewundern die Spitzentechnologie. Aber das Endprodukt ist kein elegantes Tarnkappen-Aufklärungsflugzeug, sondern eher ein neonfarbener Lamborghini.

Apropos Farbe, warum müssen alle RM-Uhren so grell sein? Nur die Ruhe, wir sehen euch auch so! Die Silhouette dieser Uhren ist doch schon unverkerkennbar genug und die oft mehr als 16 mm dicken Gehäusen lassen sich kaum unter der Ärmelmanschette verstecken. Vielleicht ist es letztlich eine Frage des persönlichen Geschmacks. Möglicherweise ist das Grundkonzept dieser Marke aber auch einfach nicht meins. Gute Güte, die Bonbon-Kollektion mit ihren knalligen Lolli-Motiven war sogar schon ausverkauft, bevor sie überhaupt offiziell erschienen war (das Marketing der Marke versichert uns wieder und wieder, dass es sich um ein „ernsthaftes“ Projekt handelt).

Richard Mille watches are known for their incredible technology.
Die Uhren von Richard Mille sind für ihre sagenhafte Technik berühmt.

Aber gibt es kein Zuviel an absichtlicher Hässlichkeit? Das ist ähnlich wie bei Turnschuhen. Vor ein paar Jahren eroberten die sogenannten „ugly Sneakers“ den High-End-Schuhmarkt im Sturm. Dank diverser Prominenter, Influencer und anderer Trittbrettfahrer verkauften sie sich fantastisch und die Laufstege, Moodboards und Social Media Feeds waren vollgestopft mit ungeheuerlichen und klobigen Tretern. Nun, da dieser Trend (Gott sei Dank) langsam wieder abflaut, bleibt die bange Frage: Fand irgendjemand den Balenciaga Triple S wirklich schön?

Ich frage mich, was die Leute in 5, 10 oder 50 Jahren von diesem hyper-spezifischen und hype-gepuschten Design halten werden. Franck Muller und Hublot waren einmal die angesagtesten Uhrenmarken. Und heute? Wenn sich die Geschichte wiederholt, wird Richard Mille wohl der nächste Hersteller sein, der diesen Weg geht.

Zugegeben, die RM 67-01 Automatic Winding Extra-Flat gefällt mir außerordentlich, und das nicht nur, weil Schauspiel-Ikone John Malkovich eine besitzt. Die Uhr ist elegant und raffiniert und lässt sich, zumindest für RM-Verhältnisse, ausgesprochen gut ablesen. Es ist die am wenigsten „Richard Mille“-mäßige Uhr von Richard Mille – wenn Sie verstehen, was ich meine. Wo wir gerade von RM-Standards sprechen: Mit ihrem Preis von ca. 170.000 Euro liegt sie noch im – äh – „erschwinglichen“ Segment der Marke.

Mir wurde einmal das überraschende (und etwas mysteriöse) Privileg zuteil, mit dem Fahrstuhl in die höchste Etage der Richard Mille-Boutique in New York fahren zu dürfen. Ich fand mich Auge in Auge mit der RM 25-01 wieder (übrigens passenderweise die Uhr von Sylvester Stallone). Diese Uhr ist ein echtes Monster von einer Toolwatch: 50-mm-Gehäuse, Kompass, Spiegel, Wasserwaage, Tourbillon – und sogar ein Fach für Wasseraufbereitungstabletten (falls man sich einmal an weniger zivilisierte Orte als Manhattan begeben muss). Ein Exemplar aus dieser auf 20 Stück limitierten Edition steht derzeit auf Chrono24 für knapp 1.200.000 Euro zum Verkauf. So sehr ich mich auch geschmeichelt fühlte, dieses Ungetüm persönlich kennenlernen zu dürfen … alles was ich in diesem feierlichen Moment denken konnte, war: „Kauf einfach eine G-SHOCK!“

Tons of tools: the Richard Mille RM 39-01
Ein ganzer Werkzeugkoffer in einer Uhr: die Richard Mille RM 39-01

Angenommen, alle Ihre Freunde haben eine Nautilus. Wie toppen Sie das?

In einem sind sich alle Uhrenliebhaber einig, die nicht zum Richard Mille-Fanclub gehören: „Wenn ich eine RM an einem Handgelenk sehe, sehe ich keine Persönlichkeit. Ich sehe nur Geld.“ Aber vielleicht ist ja genau das der Sinn der Sache. Vielleicht macht einen so viel Geld zum „coolen Typen“.

Scheinbar finden diese Uhren ausschließlich Fans unter Rappern, Sportlern und Milliardären aus Hongkong. Nichts gegen diese Leute… Hey Rapper, was reimt sich auf „Richard Milly“? Sportskanonen, nehmt eure Sponsorengelder und freut euch über eure Gratis-Uhr. Und ihr, Milliardäre aus Hongkong… Na, ihr lest das hier wahrscheinlich nicht… aber vielleicht versucht ihr mal, euch geschmacklich an eurer Steuerklasse zu orientieren.

Als Privatkundenberater bei Chrono24 werde ich sofort skeptisch, wenn jemand mich wegen einer Richard Mille anruft. Natürlich macht es Spaß, über so eine Uhr zu reden und zu behaupten: „Für so 325.000 würde ich sie nehmen.“ Aber mit großer Wahrscheinlichkeit will der Anrufer einfach nur mal einen Blick in die oberste Schublade werfen.

Ende August machte der Hip-Hop-Mogul Diddy seinem Frust über dieses Thema auf Instagram Luft. „Ich sag Euch, die Richard Mille verarscht euch alle.“ Der Entertainer, der zum Unternehmer wurde, erklärte weiter, „ ich habe zwei oder drei, nehme sie er aber nie aus der Schublade. Sie sind hässlich. Ich will sie nicht mal hassen; Ich will Richard Mille nicht mal kennen.“ Am Ende schlussfolgert Diddy: „Schwarzer Mann, spar dein Geld und kauf dir ein Haus.

Das sind der Hype, die Gefahr und der Preis nicht wert.“

Beim Recherchieren für diesen Artikel stieß ich auf Google-Einträge wie „Richard Mille robbery London,“ „Richard Mille robbery Hong Kong,“ und „Richard Mille robbery Beverly Hills.“

Der Vorfall in Beverly Hills hatte Folgendes zu bieten: Drei gut vorbereitete Angreifer, vier Schüsse, ein Krankenhausaufenthalt und ein gestohlener RM 11-03 Flyback Chronograph. Zum Glück sind solche Vorfälle die Ausnahme. Sie sind jedoch definitiv ein weiterer Minuspunkt.

Mein Rat: Nur weil man es kann, heißt das nicht, dass man es auch sollte. Warum nicht denselben Geldsegen für eine genauso außergewöhnliche, aber raffiniertere Uhr hinblättern? Wie wäre es mit einer Urwerk, einer Greubel Forsey oder – ein bisschen mehr Mainstream – einem der vielen wunderschönen Openworked-Modelle aus der Royal Oak-Serie. Oder warum nicht schlicht und ergreifend Diddys Rat befolgen und sich stattdessen ein Haus kaufen?

Mehr lesen

Richard Mille: Was steckt hinter dem Hype um die Marke?

Chrono24 Buyer’s Guide für die Richard Mille RM 011

Die 5 teuersten, jemals auf Chrono24 verkauften Uhren


Über den Autor

Thomas Hendricks

In jungen Jahren war ich kein Uhrenfan, aber ein paar Jahre nach meinem Studium habe ich als Autor und Marketing-Spezialist beim Online-Portal Watchonista angefangen. Augenzwinkernd begrüßten mich hier die neuen Kollegen: „Willkommen in der Uhrenwelt, die niemand je wieder verlässt!“ Heute bin ich Privatkundenberater bei Chrono24 und helfe Menschen dabei, die perfekte Uhr für die großen Anlässe ihres Lebens zu finden.

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